Kerstin von Lingen / Foto: (c) Barbara Mair (Universität Wien / Institut für Zeitgeschichte)
ZUM VORTRAG:
Der erste Waffenstillstand in Europa, die vorzeitige Kapitulation der Heeresgruppe C in Norditalien am 2.Mai 1945, bekannt unter ihrem Codenamen „Operation Sunrise“, war, wie Akten aus dem Bestand der Vorgängerinstitution OSS belegen, dass trotz des Verhandlungsverbots mit NS-Funktionsträgern mit einem SS-General Verhandlungen geführt wurden, und dass ihm im Gegenzug Versprechungen gemacht wurden, so dass er nach dem Krieg einer alliierten Strafverfolgung entkommen konnte. Angesichts der Rolle, die SS-Obergruppenführer Karl Wolff als Himmlers persönlicher Adjutant und bei der Organisation der Juden-Deportationen, sowie zuletzt als Höchster SS- und Polizeiführer im von Deutschen besetzten Italien besonders in der sogenannten "Partisanen"bekämpfung spielte, ist dies erstaunlich, jedoch kein Einzelfall. Der ONLINE-Vortrag des FÖRDERVEREINS LIBERALE SYNAGOGE DARMSTADT in Kooperation mit dem ASTA der TUD beleuchtet den biographischen Werdegang Wolffs, der aus Darmstadt stammte (am 13.Mai 1900 dort zur Welt gekommen), sowie der Verhandlungen um „Operation Sunrise“ und deren Rolle in den Nachkriegsprozessen in Nürnberg und anderswo.
Drei Thesen ergeben sich aus der Analyse des Materials:
Erstens hat offenbar die Bereitschaft zur Kapitulation eine spätere wohlwollende Behandlung im Kriegsverbrecherprogramm nach 1945 begünstigt.
Des Weiteren nimmt der Sondierungsführer und Leiter der Residentur des amerikanischen (Auslands-)Geheimdiensts OSS in Bern, Allen W. Dulles, eine Schlüsselrolle ein. Dulles nutzte den Abschluss der Kapitulation von 1945 zur eigenen Profilierung, was ihn bis an die Spitze des CIA tragen sollte, und er hatte kraft seines OSS-Amts nach Kriegsende die Möglichkeit, die alliierte Strafverfolgung selektiv zu behindern.
Drittens lässt die Frage nach der Motivation für die gewährte Immunität wichtige neue Erkenntnisse zu den Hintergründen und Interessen an der Kapitulation in Norditalien erwarten.
Deren Abschluss war, so die These Kerstin von Lingens, neben militärischen Vorteilen vor allem im wirtschaftlichen und politischen Interesse der westlichen Alliierten sowie auch der neutralen Schweiz.
Vor diesem Hintergrund war es Karl Wolff möglich, ein Entlastungsnarrativ zu etablieren, sich als „Gentleman in der SS“, verfestigt durch Interviews und sogar TV-Dokumentationen, einen Platz in der Nachwelt zu sichern.
Anders als seinen Opfern war Karl Wolff, dem SS-Täter aus Darmstadt, ein langes Leben vergönnt. Er starb im hohen Alter in seiner Altersresidenz in Bayern, mit 84 Jahren, bis zum Lebensende ungeschoren und unbehelligt, am 15. Juli 1984 in Rosenheim. Noch im Alter war er gern gesehener, oft hofierter Gast der westdeutschen Bundeswehr.
Lese-Empfehlung:
Kerstin von Lingen, SS und Secret Service. "Verschwörung des Schweigens": Die Akte Karl Wolff, Verlag Schoeningh Paderborn, 2010. https://www.schoeningh.de/display/title/53903
Über Prof. Dr. Kerstin VON LINGEN (Universität Wien):
Kerstin von Lingen, geb. 1971, in Bremen, seit März 2019 Professur für Zeitgeschichte – Vergleichende Diktatur-, Gewalt- und Genozid-Forschung am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Schwerpunkte ihrer Forschung: Diktatur und Gewaltgeschichte im transnationalen Vergleich am ; Kriegsverbrecherprozesse in Europa und Asien; Dekolonisierungsprozesse; Genese internationaler völkerrechtlicher Normen im 19. und 20. Jahrhundert (zB "Crimes against Humanity"); Erinnerungskultur nach 1945 (Europa und Asien); Reparationen und Restitutionen; "Entschuldigungspolitik" (Apology); Zwangsarbeit; Displacement and Resettlement; Geheimdienstgeschichte; deutsche Wiederbewaffnung; Deutsch-Italienische Beziehungen
Kerstin von Lingen studierte von 1991 an die Fächer Neueste Geschichte, Mittelalterliche Geschichte und Italienisch an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. 1993/94 folgte ein Studium der Geschichts- und Politikwissenschaften an der Universität Mailand (Norditalien). 1995 absolvierte sie ihren M.A. an der Universität Freiburg. Von 1998 an forschte v. Lingen an der Universität Tübingen für ein von Dieter Langewiesche und Hans-Peter Ullmann betreutes Doktorarbeits-Vorhaben über den Kriegsverbrecherprozess gegen Albert Kesselring 1947 in Venedig. Von 1999 bis 2008 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich 437 Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit in Tübingen. Von 2005 an betrieb sie das DFG-Forschungsprojekt Immunität durch Kapitulationsverhandlungen: der Fall des SS-Obergruppenführers Karl Wolff, aus dem ihr vielbeachtetes, bahnbrechendes Buch über Karl Wolff von 2010, SS und Secret Service, erwuchs. Von 2006 bis 2012 war sie als Gutachterin für die Generalstaatsanwaltschaft Stuttgart in Ermittlungsverfahren zu NS-Kriegsverbrechen in Italien tätig. 2007 war sie Research Fellow of European Studies am Research Institute der University of Salford, England. 2008 wurde sie als Fellow in die Royal Historical Society in London aufgenommen. Von November 2009 bis 2011 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der Deutsch-Italienischen Historikerkommission. Von 2013 bis 2017 war von Lingen Nachwuchsgruppenleiterin am Exzellenzcluster „Asien und Europa im globalen Kontext“ an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg der Junior Research Group Transcultural Justice. Legal Flows and the Emergence of International Justice within the East Asian War Crimes Trials, 1945–1954. Die Gruppe forschte zu den alliierten Kriegsverbrecherprozessen gegen japanische Militärs im Pazifik und der Rolle der Alliierten im Tokyo Tribunal, dem Pendant zum Nürnberger Gerichtshof. In dieser Zeit arbeitete von Lingen ebenfalls an ihrem Habilitationsprojekt Transnationale Debatten um die Humanisierung von Kriegsgewalt, 1864–1945. Eine Intellectual History des Konzepts von Crimes against Humanity. Die Habilitation erfolgte 2017. Seit März 2019 ist Kerstin von Lingen Professorin für Zeitgeschichte (Vergleichende Diktatur-, Gewalt- und Genozid-Forschung) an der Universität Wien.
2020 erhielt von Lingen für ihr Werk „‚Crimes against Humanity‘: Eine Ideengeschichte der Zivilisierung von Kriegsgewalt 1864–1945“ den Ernst-Otto-Czempiel-Preis der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.
Wichtigste Veröffentlichungen:
Kesselrings letzte Schlacht: Kriegsverbrecherprozesse, Vergangenheitspolitik und Wiederbewaffnung; der Fall Kesselring. Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 2004 (Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 2003), (= Krieg in der Geschichte, 20).
Engl.: Kesselring’s last battle: war crimes trials and Cold War politics, 1945–1960. Translated by Alexandra Klemm, Lawrence, Kan.: Univ. Press of Kansas 2009.
(Hrsg.) Kriegserfahrung und nationale Identität in Europa nach 1945. Erinnerung, Säuberungsprozesse und nationales Gedächtnis. Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 2009, ISBN 978-3-506-76743-1 (= Krieg in der Geschichte, 49).
SS und Secret Service: „Verschwörung des Schweigens“. Die Akte Karl Wolff. Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 2010.
Engl.: Allen Dulles, the OSS, and Nazi war criminals. The dynamics of selective prosecution. Translated by Dona Geyer, New York, NY: Oxford Univ. Press 2013.
mit Klaus Gestwa (Hrsg.): Zwangsarbeit als Kriegsressource in Europa und Asien. Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 2014,(= Krieg in der Geschichte, 77).
(Hrsg.) Justice in Times of Turmoil. War Crimes Trials in Asia, 1945–1954. London: Palgrave Macmillan 2016.
(Hrsg.) Debating Collaboration and Complicity in War Crimes Trials in Asia, 1945–1956. London: Palgrave Macmillan 2017.
(Hrsg.) Transcultural Justice at the Tokyo Tribunal. The Allied Struggle for Justice, 1946–48. Leiden: Brill 2018.
“Crimes against Humanity”: Eine Ideengeschichte der Zivilisierung von Kriegsgewalt 1864–1945. Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 2018.
Zerstörte Synagogen virtuell wiederbeleben - Neue Wege der Erinnerungskultur im digitalen Zeitalter wagen: Dr. Marc Grellert, Spezialist auf dem Gebiet der digitalen Wiederherstellung zerstörter Architektur, lehrt am Fachbereich Architektur – Fachgebiet Digitales Gestalten der TU Darmstadt und ist Mitbegründer und Geschäftsführer der Firma Architectura Virtualis. Im November 1938 wurden mehr als 1400 Synagogen in Deutschland durch die Nationalsozialisten zerstört. Viele von ihnen waren erst im 19. und 20 Jahrhundert im orientalischen, neo-romanischen, neo-gotischen oder zeitgenössisch
historistischen Stil erbaut worden. Nach einer langen Zeit der Verfolgung und Diffamierung der Deutschen jüdischen Glaubens standen sie in dieser Periode für ein wachsendes Selbstbewusstsein der jüdischen Gemeinden, aber auch für ein tolerantes Miteinander von Juden und Christen. Während der Reichspogromnacht wurden allerdings nicht nur viele von der jüngeren, sondern darüber hinaus auch Jahrhunderte alte Synagogen Opfer des NS-Judenhasses, so auch die Synagogen in Worms, Darmstadt und Mannheim.
1994 hatte Marc Grellert eine Idee: Durch virtuelle dreidimensionale Rekonstruktionen am Computer wollte er in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Manfred Koob und weiteren Mitarbeitern an diese herausragenden kulturellen Stätten jüdischen Lebens in vielen Städten und Gemeinden erinnern, sie wieder anschaulich und buchstäblich sichtbar machen. Es ging ihnen hierbei nicht nur um die verlorenen, von den Nazis zerstörten Sakralgebäude, sondern auch um die Menschen, deren kulturelle Zentren für immer zerstört wurden, und letztendlich auch um die Erinnerung an die Shoah, den Völkermord an über sechs Millionen Menschen jüdischen Glaubens.
Mittlerweile haben über 60 Studierende der TU Darmstadt unter der Leitung von Dr. Grellert und dem mittlerweile verstorbenen Prof. Koob an diesen Rekonstruktionen gearbeitet.
In vielen Fällen war und ist eine virtuelle, möglichst detailgetreue Rekonstruktion nicht einfach. In mühevoller Kleinarbeit müssen zunächst viele Informationen über die zerstörten Gotteshäuser zusammen getragen werden: Alte Entwurfs- und Baupläne, Angebote und Rechnungen der durchführenden Handwerker und historische Schwarz-Weiß-Fotos, manchmal auch Ruinenreste, liefern viele Details. Aber genau so wichtig sind Berichte von Zeitzeugen über die Außen- und Innengestaltung der Synagogen, ihre Einrichtungsgegenstände, Einzelheiten wie Farbgestaltung, verwendete Materialien und vieles mehr. Interpretationen, Ergänzungen und Absicherungen dieser Informationen durch die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern verschiedener anderer Fachdisziplinen wie Historiker, Archäologen, Sachverständige für Kunstgeschichte sollen letztendlich zu einer möglichst realistischen historischen Darstellung führen.
Als Ergebnis dieser Rekonstruktionen kann man mittlerweile u.a. die früheren Synagogen in Worms, Speyer, Mannheim und die orthodoxe Synagoge in der Darmstädter Bleichstraße, Berlin und Frankfurt am Main virtuell besichtigen und dabei über die prächtige Ausstattung dieser ehemaligen Gottes- und Versammlungshäuser staunen. Etliche Beispiele solcher virtueller Rekonstruktionen wird Dr. Marc Grellert in seinem etwa Bilder-Vortrag vorstellen. Er wird dabei auch ausführlich über die Details und Probleme der virtuellen Rekonstruktion berichten.