„Alle Kultur ist ein Kampf gegen das Vergessen“: So brachte es vor einigen Jahren der bedeutende Ägyptologe Jan Assmann auf den Punkt, nicht zuletzt im Hinblick auf die ältere jüdische Geschichte. (1)
Erst das Gedächtnis, durch das historisches Geschehen dem Vergessen entrissen wird, macht nach ihm den Menschen bindungsfähig. Die Erinnerung, die im Laufe der Zeit verblasst, wird durch die Aufzeichnung das ritualisierte Wiederholen wichtiger überlieferter Texte, aber auch durch eine Fokussierung auf Erinnerungsorte und -symbole, verstetigt und auf Dauer wahrnehmbar gemacht. Nicht zufällig wurde deshalb das alte Israel zum Prototypen einer „Lern- und Erinnerungsgemeinschaft“ erklärt, da sich in der Tora und später in Erez Israel eine stabile Identität verdichtet hatte, die von den „Rhythmen des Vergessens und Erinnerns“ (2) befreien konnte.
Den Teufelskreis von Vergessen und Erinnern zu durchbrechen, gelingt nicht immer, und vielfach kann erst ein längerer zeitlicher Abstand zur Vergangenheit diejenigen Bezugspunkte offen legen, die im Bewusstsein nachfolgender Generationen eines Kulturkreises fest verankert zu werden verdienen. Was für die Gesamtgeschichte einer Schicksalsgemeinschaft wie der der Juden gilt, gilt in gleicher Weise für diejenigen kleineren Gemeinschaften, in denen sich das alltägliche Leben der Juden abspielte. Die mit der Geschichte der Stadt Darmstadt eng verknüpfte Geschichte der dortigen jüdischen Gemeinde war gleichermaßen eingebunden in den größeren Rahmen der deutschen, aschkenasischen Judenheit wie in den der deutschen Gesellschaft. Niemals, auch nicht in vormoderner Zeit, als die aschkenasischen Juden noch als Schutzjuden von ihrer christlichen Umwelt mehr geduldet als geschützt waren, lebten sie für sich und ohne Bezugnahme auf ihre nichtjüdischen Nachbarn. Stets waren sie eingebunden in eine Gesellschaft, die sich von ihnen abgrenzen wollte und sie drangsalierte, die ihnen aber schließlich doch im 19. Jahrhundert Gleichberechtigung und Bürgerrechte gewährte. (3)
Die Erinnerung an die ersten im Jahre 1536 nachweisbaren Juden in Darmstadt ist nur dadurch geblieben, dass in einer amtlichen Steuerliste registriert wurden. (4)
Seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts ist die Geschichte der Darmstädter Juden wieder durch neue Forschungen stärker in das Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten. Ursächlich dafür waren nicht nur eine aktive jüdische Gemeinde, die mit einer Synagoge, einem Gemeindezentrum und einem kleinen jüdischen Museum (5)
sichtbar in Erscheinung trat, sondern auch Publikationen und Überblicksdarstellungen (6), die der Jüdischen Gemeinde erst ihre Geschichte wieder zurückgaben. Kaum weniger bedeutsam waren die im Jüdischen Friedhof erhaltenen Grab- und Gedenksteine (7), die im Zusammenhang mit der im Jerusalemer Zentralarchiv für die Geschichte des Jüdischen Volkes erhaltenen Gemeindeakten auch die Mitglieder der Darmstädter Gemeinde wieder lebendig werden ließen. Aber auch darüber hinaus wurden in Darmstadt eine größere Anzahl von Erinnerungs- und Gedenkorten, die die Erinnerung an das Schicksal der Jüdischen Gemeinde uns ihrer Mitglieder lebendig erhalten sollten, besonders im Hinblick auf die Verfolgungen und die Schoah in nationalsozialistischer Zeit – zu nennen sind das 1983 geschaffene Mahnmal der Stadt für die Opfer der Judenverfolgung, das „Denkzeichen Güterbahnhof“ zur Erinnerung an die Deportationen in die Vernichtungslager der Nazis und die vielen „Stolpersteine“ (u. a. als Projekt im Auftrag des Evenari-Forums für deutsch-jüdische Studien an der TU Darmstadt). Mit den wiederentdeckten und museal konservierten Grundmauern der der Liberalen Synagoge von 1875/76 in der Darmstädter Friedrichstraße kommt nun ein neuer Akzent in die Tradition der Darmstädter Gedächtniskultur: Auch diese Überreste zeugen zwar von den Verbrechen der Nazis; sie zeugen aber auch von einer ehemals blühenden Gemeinde, die ihrem Selbstbewusstsein durch ein repräsentatives und das Stadtbild prägendes Gebäude Ausdruck verliehen hatte. Die liberale jüdische Religionsgemeinde zählte damals ebenso selbstverständlich zur Darmstädter Kultur wie die orthodoxe Religionsgesellschaft und natürlich die verschiedenen protestantische n und katholischen Gemeinden der Stadt. So kann der Erinnerungsort „Liberale Synagoge“ dazu beitragen, dass der für den Bestand der gegenwärtigen Kultur so wichtige Blick auf die Vergangenheit erweitert wird: Die lange Zeit vorherrschende Verengung auf die Opferrolle der Juden kann nun aufgegeben werden und den Blick für eine reichhaltige jüdische Kultur in Darmstadt eröffnen.
J. Friedrich Battenberg
Aus: Martin Frenzel (Hg.): „Eine Zierde unserer Stadt“. Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Liberalen Synagoge Darmstadt, Justus-von-Liebig-Verlag Darmstadt 2008, S.17.
Prof. Dr. Friedrich Battenberg war Leitender Direktor des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt / ist Professor an der TU Darmstadt, Dr. jur. für Mittelalterliche und Neuere Geschichte an der TH Darmstadt. Archivdirektor am Staatsarchiv Darmstadt. Mitherausgeber von Aschkenas / Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden.
Autor zahlreicher Werke zum Judentum, u.a. Friedrich Battenberg: Quellen zur Geschichte der Juden im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt 1080 - 1650, Wiesbaden 1995 (Quellen zur Geschichte der Juden in hessischen Archiven 2);
Das Europäische Zeitalter der Juden, 2 Bde.Von den Anfängen bis 1650; Von 1650 bis 1945
Mitglied im Kuratorium des Fördervereins Liberale Synagoge Darmstadt e.V.
(1) Jan Assmann, Religion und kulturelles Gedächtnis, München 2000, S. 101.
(2) Assmann ebd., S. 33.
(3) Friedrich Battenberg, Juden in Darmstadt, in: Stadtlexikon Darmstadt, Stuttgart 2006, S. 455 f.
(4) Friedrich Battenberg, Quellen zur Geschichte der Juden im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt 1080 – 1650, Wiesbaden 1995, S. 334 Nr. 1246.
(5) Thomas Lange/Moritz Neumann, Jüdisches Leben in Geschichte, Glaube, Brauch. Das Buch zum Museum der Jüdischen Gemeinde Darmstadt, Darmstadt 1999.
(6) Beispielhaft dafür sind drei Sammelbände: Eckhart G. Franz (Hg.), Juden als Darmstädter Bürger, Darmstadt 1084; Eva Reinhold-Postina/Moritz Neumannn (Hgg.), Das Darmstädter Synagogenbuch, Darmstadt 1988; Moritz Neumann/Eva Reinhold-Postina (Hgg.), Das zweite Leben. Darmstädter Juden in der Emigration, Darmstadt 1993.
(7) Benno Szklanowski (Bearb.), Haus des ewigen Leben –Beit Hachajim. Der Jüdische Friedhof in Darmstadt, Grabstätten von 1714 – 1848, Darmstadt 1988.