Meine Damen und Herren, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
sehr geehrter Herr Pfarrer Dr. Schnitzpahn,
sehr geehrter Herr Pfarrvikar Krieg, sehr geehrter Herr
Handel, sehr geehrter Herr Erb von der Initiative Johannesplatz,
liebe Mitglieder des FLS,
danke, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, für Ihre
Worte.
ZUKUNFT BRAUCHT ERINNERUNG: So lautet das Motto unseres FÖRDERVEREINS LIBERALE SYNAGOGE.
Der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat
es einmal so formuliert: „Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es zu einem Teil des eigenen Innern wird. Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit."
Ganz in diesem Sinne ehren wir heute Vormittag HEINRICH
BLUMENTHAL, den Gründer des heutigen Johannesviertels, das einmal seinen Namen trug. Und wir ehren auch den ersten Gemeindevorsteher der Liberalen Synagoge von 1876, die im nächsten Jahr ihr 140jähriges feiert. Wir ehren nicht zuletzt
einen verdienten Politiker und Stadtverordneten, der sich – wie so viele andere Deutsche jüdischen Glaubens – für ihre Stadt und das Darmstädter Gemeinwohl stark machten. Heinrich Blumenthal gehörte, als Kind des deutschen wilhelminischen Kaiserreichs, zu den bedeutenden Vertretern des liberalen Reformjudentums in unserer Stadt. Dieser HEINRICH BLUMENTHAL war eine der, er war die dritte Lichtgestalt des Darmstädter Reform-Judentums, neben Rabbi Julius Landsberger & Otto Wolfskehl!
Wir, vom FÖRDERVEREIN LIBERALE SYNAGOGE, haben über ein
Jahr lang Spenden aus der Bürgerschaft und von Institutionen gesammelt, um unsere Idee und Initiative einer besonderen HOMMAGE an diesen HEINRICH BLUMENTHAL in die Tat umzusetzen.
Wir wollen mit unserer erinnerungskulturellen Arbeit an
jene vergessenen Darmstädter Juden erinnern, die heute kaum einer mehr kennt. An Namen wie Rabbi Julius Landsberger,
den wir mit einem Platz und zwei Gedenktafeln ehrten, an Otto Wolfskehl und eben an Heinrich Blumenthal.
Zieht man die Verdienste jenes Heinrich Blumenthals in
Betracht, dann ist es kein Ruhmesblatt für unsere Stadtgesellschaft, das bislang kein Hinweisschild an diese bedeutenden Darmstädter und Gründer des Blumenthalviertels, des heutigen Johannesviertels erinnerte.
Blumenthal war ein Visionär, Stadtteilgründer von Rang,
Stadtpolitiker mit Weitblick, Pionier der industriellen Revolution.
Heute liegt Heinrich Blumenthal, der 1901 starb, auf dem
Jüdischen Friedhof Darmstadts begraben. Er hat den Holocaust nicht mehr erleben müssen. Wohl aber seine Kinder und Kindeskinder.
Und heute? Heute ist dieser Mann zu Unrecht völlig vergessen.
Niemand kennt seinen Namen mehr. Das, meine Damen und Herren, wollten wir, der Förderverein Liberale Synagoge, ändern.
Wir stehen hier heute gemeinsam an der Nordseite des Johannesplatzes vor einem magischen Dreieck: Die Gedenktafel des Fördervereins Liberale Synagoge hat Dank der Unterstützung
des Kirchenvorstands der Ev. Johannesgemeinde, ihren Platz gefunden zwischen der Johanneskirche hinter uns, dem Louvre gegenüber, jenem Bau, den Blumenthal errichten ließ und indem er, wie andere Honoratioren selber wohnte… und nicht
zuletzt im Herzen „seines“ Stadtquartiers, an der markanten Ecke Wilhelm Leuschner-Str./Alicenstr.
Ich will aber hier und heute auch – eingedenk des 77.
Jahrestags, an dem auch und gerade in Darmstadt die drei jüdischen Gotteshäuser brannten, der Darmstädter Novemberpogrome von 1938, - erinnern an das, was bereits drei Jahre vorher vor aller Augen geschah: Vor genau 80 Jahren, 1935, verhängten die braunen Machthaber jene berüchtigten Nürnberger NS-Rassismus- und Judenverfolgungsgesetze. Jene
Gesetze, die die Grundlage für den NS-Staatsraub von oben, die systematische Entrechtung und Entwürdigung der Deutschen jüdischen Glaubens schufen – und am Ende den Weg in Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung ebneten. Aber, meine Damen und Herren, und das ist uns vom FLS sehr wichtig zu sagen: Der Antisemitismus kam nicht erst mit den Nazis – es gab ihn schon im Kaiserreich und auch schon lange vorher.
Der Antisemitismus, die Judenfeindschaft verschwand auch
nicht mit den Nazis – es gibt ihn immer noch und mehr denn je. 30 Prozent der Deutschen sind neuesten Studien Zufolge antisemitisch und rechtsextrem eingestellt. 30 Prozent – das sind nach Auschwitz, nach der Ermordung von fast sechs Millionen Menschen jüdischen Glaubens 30 Prozent zu viel, meine Damen und Herren.
Auch Heinrich Blumenthal hat den Antisemitismus zu
Lebzeiten noch erlebt – er ist nicht 1933 vom Himmel gefallen. Ende des 19. Jahrhunderts erreichte die Antisemiten-Partei in Darmstadt erschreckende weit über 20 Prozent Wählerstimmen. Es gab in Darmstadt schon im Kaiserreich ein antisemitisches Hetzblatt, die "Hessische Reform" (1894-1904). Und 1912, im Jahr als die Titanic sank, erstach ein Antisemit einen jüdischen TH-Studenten am hellichten Tag in der Rheinstr.
Heute ist die Erinnerung an die einst so bedeutende
Familie Heinrich Blumenthal und seine Ahnen regelrecht ausgelöscht. Adorno hat einmal treffend gesagt: Der Antisemitismus – das ist das GERÜCHT über die Juden.
Wie aber war dieser Antisemitismus möglich, wie gedieh
dieses Gift, das immer mehr Teile der Gesellschaft erfasste?
Das hat der lange in Deutschland lebende große liberale
dänische Philosoph und Nietzsche-Entdecker Georg Brandes, der lange in Deutschland lebte, schon zu Lebzeiten Heinrich Blumenthals, vor über 130 Jahren hellsichtig, im Jahre 1881, so
beschrieben: „Man geht kaum fehl, wenn man die Bewegung gegen die Juden in Deutschland als eins der vielen Symptome für die große soziale und politische Reaktion in Deutschland ansieht. (…) Reaktion und Chauvinismus zusammen entfachten in allen
nicht wirklich gebildeten Gemütern den seit Menschengedenken schwelenden Rassenhass. (…) Wenn erst Reaktion und Chauvinismus den NEID und die ROHHEIT des einfach und des feinen Pöbels entfacht, tritt ein Phänomen, das (…) sich am besten als geistige Suche bezeichnen lässt.“ Georg Brandes weiter: Mit einem Mal fingen die ruhigen Deutschen an zu spionieren, anzuzeigen, auszuliefern, zu verfolgen und sich
gegenseitig zu beschuldigen, als wären sie ein Volk minderbegabter und schadenfroher Polizeispitzel.“
Soweit GEORG BRANDES, vor 130 Jahren, wie gesagt, im
Jahre 1881, zu Kaisers Zeiten!
Es war, wie der deutsche Historiker Peter Steinbach, die
Denunziantengesellschaft, die Bereitschaft, andere anzuschwärzen, zu denunzieren, zu verleumden, mit Rufmord zu überziehen, die dem Massenphänomen der Judenfeindschaft Tür und Tor öffnete.
Erst in diesem Licht bekommt das berühmte Wort Willy
Brandts, die Deutschen sollten wieder ein Volk der guten Nachbarn sein seine eigentliche tiefere Bedeutung.
Die Lehre aus der Geschichte ist es, auch heute dem
Ungeist der Denunziantengesellschaft zu wehren, also dem, was wir neudeutsch Mobbing nennen: Es geht nicht nur um das, was früher war, es geht um den Umgang heute untereinander. Dass wir den Gift & Galle-Gerüchten nicht Glauben schenken, die Umlauf sind… das wir lernen, uns selbst ein Bild über den Anderen oder „die“ Anderen zu machen – ehe wir
urteilen. Es geht um empathische Demokratie, fairen Umgang miteinander. Ohne Gift und Galle-Gerüchte. Und ohne Rüpelrepublik Deutschland.
Warum, meine Damen und Herren, fiel Heinrich Blumenthal auch
nach 1945 jahrzehntelang dem Vergessen anheim?
Da hilft Fritz Bauers weise Erkenntnis weiter: "Es gab in Deutschland nicht nur den Nazi Hitler und den Nazi Himmler… Es gab Hunderttausende, Millionen anderer, die das das, was geschehen ist, nicht nur durchgeführt haben, weil es befohlen war, sondern weil es ihre eigene Weltanschauung war. Leute, die ihren eigenen Nationalsozialismus
verwirklichten..."
Wir sind erst am Anfang einer umfassenden Spurensuche: Erste
Spuren führen nach Augsburg, wo ein Teil der Nachkommen sich niederließ.… Erinnert sei aber heute an diesem besonderen Tag auch an die gesamte Familie Blumenthal: Daran, dass die beiden Enkelinnen Heinrich Blumenthals, die beiden Nachfahrinnen, Elisabeth und Margarethe Blumenthal im Angesicht der drohenden Verfolgung und Vernichtung beide Selbstmord begingen – Elisabeth 1938 im Fahrwasser des Novemberpogroms, Margarethe 1941, als die Gestapo aus Frankfurt ins Vernichtungslager deportieren wollte. Erinnert sei auch an die Urenkelin und Nachkommin Anja Lundholm, die später, nach 1945, mit ihren autobiografischen Romanen von sich reden machte – und der Christian Gropper, der Darmstädter Filmemacher, ein filmisches Denkmal setzte.
Wir vom FÖRDERVEREIN LIBERALE SYNAGOGE organisieren
nicht umsonst zum 4. Mal in Folge die Darmstädter Aktionswochen gegen Antisemitismus. Heute hat der Antisemitismus viele Gesichter: Er kommt mal im rechtsextremen, mal im linksextremen „Querfront“-Gewand daher, mal im islamistisch-salafistischen Gewand und leider Gottes verstärkt auch aus der Mitte der Gesellschaft, im
bürgerlich-akademischen Gewand…
Der Historiker Manfred Gerstenfeld spricht in seinem
neuen Buch von: The War of A Million Cuts – »Dem Krieg der Millionen Nadelstiche« – so vielgestaltig ist Judenfeindschaft heute...
Der französische Literatur-Nobelpreisträger, Erzähler,
Lyriker und Historiker Anatole France hat es einmal so formuliert: „Der Antisemitismus ist der Tod, jawohl, der Tod der
europäischen Zivilisation."
Lassen Sie mich im Namen des gesamten FLS-Vorstands
heute DANKE sagen: An zahlreiche Bürgerinnen und Bürger, die durch ihre Spenden diese Gedenktafel zu Ehren Heinrich Blumenthals ermöglicht haben
Dank an Herrn Oberbürgermeister Jochen Partsch und die
Wissenschaftsstadt Darmstadt.
Dank an den Kirchenvorstand der Ev. Johannesgemeinde, an
Sie Pfarrer Schnitzspahn und Pfarrvikar Krieg und an Sie, Herr Handel, Dank sagen an unsere Unterstützer:
an den Darmstädter Förderkreis Kultur den ehem.
Oberbürgermeister Peter Benz
Die Sparkasse Darmstadt, Herrn Sellner und Herrn Erb,
an die HSE-Stiftung und unser Vorstandsmitglied Ludwig
Achenbach
Dank an den gesamten Vorstand des FLS
Und alle aktiven FLS-Mitglieder Vor allem geht großer Dank an Gerd Pelzer und seine Frau, die nach unserem Konzept
wieder einmal ein – wie schon bei der Landsberger- und Wolfskehl-Tafel sehr gute und sehr schnelle aktive Design-Arbeit geleistet haben. Und DAS just-in-time, meine Damen und Herren!
Da können Sie ruhig mal klatschen!
Ehe wir gleich ein Grußwort des von Pfarrer Gerhard
Schnitzspahn hören, und dann die Tafel enthüllen, möchte ich auf unser neues Projekt seitens des FÖRDERVEREINS LIBERALE SYNAGOGE für 2016 hinweisen: Darmstadt braucht einen Karl
Hess Platz im November 2016 – und zwar vorm Merck-Stadion am Böllenfalltor!
Damit wollen wir gleichfalls vergessenen deutsch-jüdischen S V DA 98-Präsident Karl Hess ehren. Und wir bitten Sie alle diese unsere Idee und Initiative PRO KARL HESS-PLATZ mit Gedenktafel, versteht sich, aktiv zu unterstützen.
Meine Damen und Herren,
ZUKUNFT BRAUCHT ERINNERUNG - Richard von Weizsäcker hat es treffend so gesagt: „Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.“
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.