Vor fast 70 Jahren, im November 1939, mehr als ein Jahr nach dem barbarischen Fanal der Synagogen-Brände, denen auch die jüdischen Gotteshäuser zum Opfer gefallen waren, schlug Kaufmann Adolf Kahn im Vorstand der durch Auswanderung, Flucht und erste Verhaftungen auf wenige hundert Mitglieder zusammengeschmolzenen „Jüdischen Kultusvereinigung Darmstadt“ vor, man solle die Geschichte der Gemeinde dokumentieren, solle „ Material zum Gedächtnis großer Darmstädter Juden sammeln.“
Der Antrag Kahns, laut Protokoll „dankbar angenommen“, ist wichtig als Zeugnis dafür, dass er und seine Freunde sich noch damals, nach Jahren der Erniedrigung und Verfolgung durch den NS-Staat, als „Darmstädter Juden“, als „Darmstädter Bürger“ gefühlt haben, die an die Mitwirkung ihrer Vorfahren an der Geschichte dieser Stadt erinnern wollten. Das 1984, vor fast 25 Jahren, von der Stadt Darmstadt herausgegebene, längst vergriffene Gedenkbuch „Juden als Darmstädter Bürger“ hat sich im Vorwort auf dieses Vermächtnis berufen.
Schon in der Römerzeit mögen jüdische Kaufleute aus den Legionsstädten am Rhein auf der „platea montana“, der späteren Bergstraße und auf den Etappenstraßen zum Limes auch durch Ried und Odenwald gezogen sein. Jüdische Familiennamen wie Mainzer, Speyer und Wormser, Oppenheimer und Trier, die sich später auch in Darmstadt finden, erinnern an die bis in die Zeiten Kaiser Konstantins zurückreichende Geschichte der jüdischen Gemeinden am Rhein.
Für die deutschen Juden des Mittelalters, die als „kaiserliche Kammerknechte“ zumindest theoretisch den besonderen Schutz des Reiches genossen, wechselten Zeiten erfolgreicher Mitwirkung am Wirtschaftsleben, Grundlage einer wissenschaftlich-kulturellen Blüte, die sich in den künstlerisch gestalteten hebräischen Handschriften der Darmstädter Bibliothek niedergeschlagen hat, mit periodischen Wellen der Verfolgung, die zur Vertreibung der Juden aus England, Frankreich und Spanien geführt haben.
Als Kaiser Ludwig der Bayer den ums Reich verdienten Grafen von Katzenelnbogen 1330 das erbetene Stadtprivileg für ihre Burgsiedlung Darmstadt erteilte, erhielten sie gleichzeitig das Recht, in ihren Städten und Festungen bis zu 24 Judenfamilien aufzunehmen. Die Anfänge der jüdischen Gemeinden in Groß-Gerau und Zwingenberg reichen wohl bis in jene Zeit zurück.
In Darmstadt und Arheilgen lassen sich in den Jahren nach der Reformation, als das Jahrmarkts-Privileg von 1529 der wirtschaftlichen Entwicklung neuen Auftrieb gab, erstmals ortsansässige Juden nachweisen, allerdings nur für wenige Jahre, da die restriktiven Judenordnungen des sonst so toleranten Landgrafen Philipp ein endgültiges Fußfassen erschwerten. Nachdem Philipps jüngster Sohn Georg 1567 erster Landgraf von Hessen-Darmstadt geworden war, finden sich jedoch weitere Belege für die Ansiedlung landgräflicher Schutzjuden im Bannkreis der nunmehrigen Haupt- und Residenzstadt. Neue judenfeindliche Verordnungen folgten. Nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648), der die Stellung der jüdischen Geldverleiher und Heereslieferanten gestärkt hatte, konnten die eifersüchtigen Bürgerdeputierten im hessischen Landtag noch einmal eine generelle Vertreibung aus den größeren Städten durchsetzen. Angesehene jüdische Familien Hessens, die Messel, Pfungst oder Wolfskehl, nannten sich nach den Dörfern des Umlands, in die sie damals verbannt wurden.
Die eigentliche Geschichte der Darmstädter Judengemeinde beginnt in den Jahren des kunst- und prunkliebenden Landgrafen Ernst Ludwig, der für den Ausbau seiner Barock-Residenz auf die Mitwirkung jüdischer Finanziers und Kaufleute angewiesen war. Hoffaktor Meyer Kassel lieferte die „französischen Komödienwaren“ für das 1710 neueröffnete Hoftheater. Im gleichen Jahr wurde die jüdische Begräbnisbruderschaft für den Judenfriedhof unweit des künftigen Orangeriegartens in Bessungen gestiftet. Im Jahr zuvor war mit Rabbi Michael Bacharach aus dem böhmischen Nachód erstmals ein eigener Rabbiner für die Darmstädter Judenfamilien berufen worden, ein zuverlässiger Beleg dafür, dass die Gemeinde nun stark genug war, um den für den jüdischen Gottesdienst notwendigen „Minjan“ von zehn erwachsenen Männern zu bilden. In Meyer Kassels Haus in der Großen Ochsengasse zu Darmstadt wurde 1737 die erste Synagoge eingerichtet. Als Ernst Ludwig ein Jahr später sein goldenes Regierungsjubiläum feierte, gab es einen eigenen Festgottesdienst in der „Judenschule“, die ebenso wie die Häuser der jüdischen Kaufleute mit hebräisch und deutsch beschrifteten Schmucktransparenten zu Ehren des Landesherrn behängt war.
Die Darmstädter Judenschaft bildete inzwischen ein eigenständiges Element in der bürgerlichen Bevölkerung der Stadt, die damals rund dreitausend Einwohner zählte. Neben den wohlhabenden Hoffaktoren und Kaufleuten, die im Handel mit Tuchen, Kleidern, mit Vieh und mit Leder, mit Salz oder mit Tabak oft weitgespannte Handelsbeziehungen unterhielten, gab es eine Reihe kleinerer Händler und Hausierer, nur vereinzelt Handwerker: Den für das koschere Schlachten notwendigen Metzger, den Gastwirt der jüdischen „Garküche“ und den aus Trebur zugezogenen Hofgoldsticker Wolf, der die barocken Uniformen verzierte. Juristisch waren die Juden immer noch „Schutzjuden“ mit geminderten Rechten, denen an sich sogar der Erwerb von Grund- und Hausbesitz untersagt war, obwohl die Mehrzahl der Darmstädter Juden damals noch längst eigene Häuser besaß, am Birngarten oder im Umkreis der Synagoge in der Altstadt.
Trotz fortdauernder Ressentiments – selbst der kluge und fortschrittliche Staatsminister Friedrich Karl von Moser schrieb einmal, man müsse sich in den Staatsfinanzen „von den Blutigeln, den Juden, losmachen“ – suchte der aufgeklärte Absolutismus des ausgehenden 18. Jahrhunderts die Juden stärker als bisher in die Bevölkerung zu integrieren, in die äußeren Lebensformen der bürgerlichen Gesellschaft einzupassen. Zur „Hauptreformation der Juden und ihrer Einrichtungen“, die der 1783 neuernannte Landjudenschaftskommissar Georg Konrad Stockhausen konzipierte, gehörte unter anderem die Anordnung, dass alle Protokolle und Steuerrechnungen, aber auch die privaten Geschäftsbücher der jüdischen Kaufleute, künftig nicht mehr auf Hebräisch, sondern auf Deutsch zu führen waren. Man feierte die ersten jüdischen Schüler im Darmstädter Pädagog und die Verleihung des Bürgerrechts der Residenz an zwei junge Uhrmachermeister, Söhne aus Darmstädter Judenfamilien, die auf Kosten der landgräflichen Schatulle einen „bürgerlichen Beruf“ erlernt hatten.
Den eigentlichen Durchbruch zur sogenannten „Emanzipation“ der Juden brachte jedoch erst das 19. Jahrhundert, die Ablösung der aus dem Mittelalter überkommenen Staats- und Gesellschaftsordnung unter dem Einfluss der französischen Revolutionsideen des Jahres 1789. Die dort verkündeten Grundsätze -Gleichheit aller Einwohner als Staatsbürger, Gleichberechtigung der Religionen, Gewerbefreiheit und Abschaffung bisheriger Zunftschranken und Privilegien - wurden vom Rechts- und Verfassungsdenken des konstitutionellen Liberalismus in Deutschland aufgegriffen. Entscheidend wurde die wirtschaftliche Entwicklung. Die Vermögen der jüdischen Kaufleute waren bereits mit den Militärlieferungen der napoleonischen Kriege deutlich angewachsen. Schon vor Inkraftreten der neuen Verfassung des Großherzogtums, die ausdrücklich die Aufnahme auch „nichtchristlicher Glaubensgenossen“ in Staats- und Ortsbürgerrecht vorsah, hatte der Darmstädter Stadtrat fast zwei Dutzend jüdischen Kaufleuten die Stadtbürgerschaft zuerkannt.
An der wirtschaftlichen Umgestaltung im Zeichen der in Hessen nur zögernd durchgesetzten Industrialisierung hatte das Darmstädter Judentum, das hier gebotene Chancen nutzte, maßgeblichen Anteil. Als die handwerkliche Produktion durch die neuen, industriellen Manufakturen abgelöst wurde, übernahm der jüdische Handel den Vertrieb. Es gab eine rasch wachsende Zahl jüdischer Kleider- und Schuhgeschäfte, Läden für Eisen- und Haushaltswaren, Spielwaren- und Möbelgeschäfte. Firmen wie die Hofmöbelhandlung Trier, die später eine der im Zeichen des Jugendstils bekannt gewordenen Möbelfabriken aufbaute, „Eisen-Trier“ und das Textilgeschäft Hachenburger auf der Unteren Rheinstraße gehörten für mehr als ein Jahrhundert zu den angesehensten Geschäftsadressen Darmstadts. Das erste Darmstädter Kaufhaus der Gebrüder Homberger im einstigen Prinz-Georgs-Palais am Markt wurde später durch die aus Michelsstadt kommenden Gebrüder Rothschild übernommen, für die Georg Wickop dann den eindrucksvollen Kaufhaus-Neubau am Markt (heute Henschel & Ropertz) errichtete.
Wie die Triers engagierten sich jüngere Kaufleute zum Teil selbst in der Fabrikation. Die schon in den Anfangsjahren des 19. Jahrhunderts von Sohn und Neffe des Hofbankiers Hirsch Raphael Kaulla begründeten Wachslichter- und Tabakfabriken gehörten zu den ersten Fabrikbetrieben Darmstadts. Weitere Gründungen der industriellen Frühphase waren die Streichholzfabriken Bessunger und Reichenbach und die Maschinenfabrik Heinrich Blumenthals, der dann in der eigentlichen „Gründerzeit“ mit einer eigenen Grundstücksgesellschaft das heutige Johannesviertel baute. Alte Darmstädter wissen noch, dass es ursprünglich Blumenthal-Viertel hieß. Der mit der Industrialisierung verstärkte Geldumlauf, Kredit- und Anlagebedarf, verstärkten die traditionelle Rolle des jüdischen Geld- und Bankgeschäfts. In den 1860er und 1870er Jahren gab es zeitweilig neun oder zehn jüdische Privatbanken in Darmstadt, die meisten, Wolfskehl und Ferdinand Sander, Reichenbach, Gerst und Neustadt, auf der schon damals zur Bankenstraße ausgebauten Rheinstraße. Gründung jüdischer Financiers war auch die erste moderne Großbank in Deutschland, die 1852 vorrangig für die Eisenbahnfinanzierung errichtete „Bank für Handel und Industrie“ (später Darmstädter Bank), deren Geschäftshaus heute als Baudenkmal jener Gründerjahre unter Schutz steht.
Mit zunehmendem wirtschaftlichem Einfluss gewannen die führenden jüdischen Geschäftsleute, nachdem die Revolution von 1848 letzte rechtliche Schranken beseitigt hatte, auch wachsendes Gewicht im politischen und gesellschaftlichen Leben. Seit den 1860er Jahren wirkten Bernhard Trier, dann auch Heinrich Blumenthal und Otto Wolfskehl im Darmstädter Stadtrat. In der Handelskammer Darmstadt haben jüdische Kaufleute und Bankiers seit der Gründung 1862 eine wichtige Rolle gespielt. Otto Wolfskehl war Kammerpräsident, aber auch langjähriger Abgeordneter der nationalliberalen Regierungspartei und Vizepräsident des Hessischen Landtags. Mäzenatisches Wirken im künstlerisch-kulturellen Bereich kam hinzu. Wenn die Söhne der jüdischen Wirtschaftsführer Kunst und Wissenschaft zum Beruf machten – wie der Darmstädter Bankierssohn Alfred Messel wurde auch einer der Wolfskehl-Söhne Architekt, der andere, Karl Wolfskehl, Schriftsteller und Dichter -, so gab es auch hier bereits eine eigene Tradition.
Vererbung künstlerischer Begabung dokumentieren die Familien Hachenburger und Schlösser. Herz Hähnle Hachenburger, dessen Vater schon 1769 eine landgräfliche Konzession zum Musikspiel auf dem Lande erhielt, wurde mit seiner „Herzer-Kapelle“ zum „Darmstädter Strauß“. Einer der Söhne war als Klaviervirtuose und Komponist Mitglied der Darmstädter Hofkapelle, ein zweiter, Kallmann, Cellist bei den New Yorker Philharmonikern, Sekki einer der ersten Darmstädter Photographen. Von den Söhnen der Gastwirtin Mindle Böhmer im „Goldenen Stern“, einer Schwester des Hofgoldstickers Wolf, wurde der eine Zeichenlehrer am Philantropin in Frankfurt, der andere Musiker in London. Der noch begabtere Enkel Louis Schlösser, vom Großherzog zur Ausbildung nach Wien und Paris geschickt, wurde Hofkapellmeister, seine Söhne Kunst- und Musikprofessoren in London.
Wirtschaftlicher und politischer Erfolg, zunehmende Anpassung und Integration in die bürgerliche Industriegesellschaft, hatten Gegenwirkungen. Innerhalb des Judentums kam es zu einer Spaltung zwischen dem zunehmend liberalisierten jüdischen Großbürgertum der Städte und dem stärker den überkommenen Glaubens- und Lebenstraditionen verhafteten Landjudentum. Als mit dem Eisenbahnbau in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine wachsende Zahl jüdischer Landwaren-, Vieh- und Holzhändler um der besseren Verkehrsanbindung willen in die Landeshauptstadt übersiedelte – Familien wie Bodenheimers aus Biblis, die Meyers aus Griesheim, die Adlers aus Arheilgen -, wurde die Spaltung in die Stadt hineingetragen. Neben der liberalen „Religionsgemeinde“ entstand die orthodoxe „Religionsgesellschaft“.
In den 1870er Jahren errichteten beide Gruppen ihre neuen Synagogen im Bereich Friedrichstraße/Bleichstraße, der die Ochsengasse in der Altstadt als Mittelpunkt jüdischen Kulturlebens in Darmstadt ablöste. Am 23. Februar des Jahres 1876 konnte die Liberale Synagoge Darmstadt in der Friedrichstraße so in Anwesenheit der zahlreich erschienenen Darmstädter Prominenz feierlich eingeweiht werden. Kreisbaurat Eduard Köhler und der spätere Stadtbaumeister Stephan Braden haben den eindrucksvollen Bau in der historistischen Formensprache der Zeit geplant und gebaut. Die Orthodoxen, die seit der Jahrhundertwende durch Zuwanderer aus Osteuropa verstärkt worden waren, ersetzten ihren noch recht bescheidenen Synagogenbau von 1873 dann 1905/06 durch Georg Wickops eindrucksvollen Jugendstilbau, der in manchen Elementen Vorbild der Neuen Synagoge von 1988 in der Wilhelm-Glässing-Straße war.
Zumindest teilweise Gegenreaktion auf das auch in den Synagogenbauten manifestierte Selbstbewusstsein der jüdischen Mitbürger war der neu aufkommende politische Antisemitismus, der sich in den 1890er Jahren gerade in den ländlichen Gebieten Hessens, im wirtschaftlich rückständigen Oberhessen, aber auch im Odenwald, fast epidemisch ausbreitete. Wortführer war der Marburger Bibliothekar Dr. Otto Böckel, der als polemischer Versammlungsredner bald auch in Südhessen, auf dem „antisemitischen Volksfest“ in Sandbach und im gutbürgerlichen Darmstadt seine Zuhörer fand. Die primitiv-rassistischen Hetzparolen der in Darmstadt gedruckten „Neuen Hessischen Volkszeitung“ nehmen in erschreckender Weise den Tonfall des „Stürmer“ vorweg. 1893 fielen immerhin drei von insgesamt neun hessischen Reichstagsmandaten an die Antisemiten. Trotz offizieller Distanzierung der herrschenden politisch-kirchlichen Kräfte kam es in Landtag und Stadtparlament in der Folgezeit zu mehr oder minder stillschweigender Zusammenarbeit der sogenannten „bürgerlichen“ Parteien mit den aus der Antisemitenbewegung hervorgegangenen Mandatsträgern, die damit sozusagen „salonfähig“ wurden.
Der Fronteinsatz jüdischer Freiwilliger im Ersten Weltkrieg (1914-1918) galt vielen als Nagelprobe, als endgültige Bestätigung der vollen Eingliederung in den deutschen Nationalstaat. Um so härter war die Enttäuschung, als sich die aus dem Felde heimkehrenden „jüdischen Frontsoldaten“ in der neugeschaffenen Republik einer Neubelebung des militanten Antisemitismus in der „deutsch-völkischen“ Bewegung gegenübersahen. Der angesehene Darmstädter Rabbiner Dr. Bruno Italiener, im Krieg „Feldrabbiner“ in Frankreich, schrieb „Waffen im Abwehrkampf“ gegen den neuen Judenhass.
Carlo Mierendorff, damals Student in Heidelberg, wandte sich in seiner 1922 erschienenen Flugschrift „Arisches Kaisertum oder Judenrepublik“ gegen die „gemeingefährliche Hetze“ der
deutschvölkischen Partei und brandmarkte den „arischen Kampf gegen das Judentum“ als kaum verschleierten Kampf gegen den demokratischen Staat an sich, der von weiten Teilen der Studenten- und
Akademikerschaft mitgetragen wurde.
In Darmstadt griff die an der Technischen Hochschule entfachte Kampagne gegen den jüdischen Philosophieprofessor Julius Goldstein auch auf den Landtag über, und der deutschnationale Fraktionsführer Prof. Ferdinand Werner polemisierte offen „gegen den mir schädlich erscheinenden Einfluss des Judentums“. Sogar das avantgardistische Darmstädter Theater unter Intendant Gustav Hartung geriet ins Schussfeld antijüdischer Propaganda. Pogromparolen der seit 1929 in Darmstadt gedruckten NS-Zeitung „Hessenhammer“ führten zu einem massiven Erlass des SPD-Innenministers Wilhelm Leuschner gegen „die aufs Schärfste zu verurteilende antisemitische Verhetzung“ der Nationalsozialisten.
Als Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler berufen wurde, als die NSDAP nach der Reichstagswahl am 5. März des gleichen Jahres, in der runde 50 Prozent der Darmstädter für die NS-Liste stimmten, auch in Hessen die Staatsgewalt übernahm, war der Antisemitismus Teil des offiziellen Regierungsprogramms. Der oberhessische Alt-Antisemit Werner wurde hessischer Staatspräsident. Schon in den ersten Tagen nach der sogenannten „Machtergreifung“ gab es Terroraktionen der SA gegen jüdische Geschäftsleute und Anwälte, die mit KPD-Funktionären zum Abwaschen der plakatverklebten Litfasssäulen gezwungen wurden, wenn auch erste Boykottaktionen gegen jüdische Geschäfte als Gefährdung der nach den Depressionsjahren mühsam wieder anlaufenden Wirtschaftskonjunktur relativ rasch unterbunden wurden. Unmittelbar in Angriff genommen wurde jedoch die systematische Ausschaltung all derer, die nach der NS-Rassenlehre als Juden eingestuft wurden, aus dem öffentlichen Dienst, aus Staats- und Gemeindeämtern, aus Hochschule, Schule und Theater, eine Aktion, die als „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ kaschiert wurde. In der forcierten „Gleichschaltung“ von Berufskörperschaften, Verbänden und Vereinen wurden neben den politischen Gegnern auch die Juden zum Ausscheiden gezwungen. Jüdischen Ärzten wurde die Kassenpraxis, jüdischen Anwälten das Vertretungsrecht vor Gericht entzogen, Mitarbeitern der Verwaltung der Einkauf in jüdischen Geschäften verboten. Der Entzug der staatsbürgerlichen Rechte für alle erst nach 1918 eingebürgerten Juden, eine Maßnahme, die vor allem die seinerzeit aus dem Osten zugezogenen Juden traf, bewirkte eine erste Abwanderungswelle.
Der offene oder versteckte Druck, der mit antijüdischen Beschränkungen und Schikanen verschiedenster Art ausgeübt wurde, war in den frühen Jahren des NS-Regimes auf dem Lande sicher noch stärker als in den größeren Städten. Die eigenständige Kulturarbeit der jüdischen Gemeinden, die zwecks Ausgliederung jüdischer Schüler aus den allgemeinen Schulen neugeschaffenen jüdischen Schulen, jüdische Kultur- und Sportveranstaltungen wurden sogar gefördert; all dies lag letztlich im Trend der damals betriebenen Apartheid-Politik, die über die Absonderung zur Auswanderung führen sollte, eine Politik, der die Auswanderungspropaganda jüdisch-zionistischer Organisationen entgegenkam. Die Darmstädter Stelle des Palästinaamts hat in den Jahren 1933-1936 rund 200, zumeist jüngeren Gemeindemitgliedern die Auswanderung nach Palästina vermittelt, oft nach handwerklichen oder landwirtschaftlichen Vorbereitungskursen für das Leben im Kibbuz. Hilfsorganisationen halfen bei der Auswanderung in andere Länder, die durch Anlaufadressen bei bereits im 19. Jahrhundert ausgewanderten Verwandten in England und Frankreich, Nord- oder auch Südamerika erleichtert wurde.
Die Auswanderungszahlen stiegen, nachdem die sogenannten „Nürnberger Gesetze“ von 1935 die Juden auch offiziell zu Staatsbürgern zweiter Klasse gestempelt hatten, „Rassenschande“ als Verstoß gegen das Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ zum strafwürdigen Delikt erklärt worden war. Die Darmstädter Adressbücher spiegeln die fortschreitende Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben durch Geschäftsaufgaben und mehr oder minder freiwillige Verkäufe. Schon im Sommer 1938 brüstete sich die „Hessische Landeszeitung“, dass in „wohl wenigen Städten die Arisierung des Einzelhandels so rasch und so durchschlagend vorangeschritten ist wie in Darmstadt.“ An den städtischen Bädern, am Landesmuseum und an der Landesmusikschule, an der Orangerie, am Städtischen Saalbau und an der Bessunger Turnhalle, so ein anderer Bericht, hingen jetzt Schilder mit der Aufschrift „Juden ist der Zutritt verboten“. Im Juli 1938 gab es neue Kennkarten, Anfang Oktober wurde „Jude“ in die Reisepässe gestempelt, und Darmstadts Ratsherren beschlossen die Umbenennung der nach Otto Wolfskehl, Heinrich Blumenthal und Alfred Messel benannten Straßen. Von den rund 1650 Juden, die vor 1933 in Darmstadt gelebt hatten, waren zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als ein Drittel ausgewandert. Kleinere Orte meldeten in den periodischen Zählungen vielfach schon damals „judenfrei“, zumal zahlreiche jüdische Landbewohner die Anonymität der größeren Stadt vorzogen.
In der von Joseph Goebbels ausgelösten Pogromwelle der sogenannten „Reichskristallnacht“ vom 9./10.November 1938 brannten in Ausführung des von der SA-Brigade Starkenburg weitergegebenen Befehls – „...sämtliche jüdische Synagogen zu sprengen oder in Brand zu setzen...“ – Darmstadts Liberale Synagoge in der Friedrichstraße, die orthodoxe in der Bleichstraße und die 1914 gebaute Synagoge in Eberstadt so wie die jüdischen Gotteshäuser in zahlreichen anderen Orten Hessens. Gleichzeitig zerstörten und plünderten Schlägerkolonnen von SA- und SS-Leuten die Gemeinderäume, die noch verbliebene jüdische Geschäfte, Anwaltsbüros und Privatwohnungen. Brutale Misshandlungen führten zu ersten Todesfällen. 169 Darmstädter Juden wurden als „Schutzhäftlinge“ ins KZ Buchenwald eingewiesen, von wo sie nach Wochen entwürdigender Strafarbeit, kahlges choren und ausgemergelt wieder zurückkehrten. Zu den inzwischen neu verfügten Zwangsmaßnahmen zählten Vermögensbeschlagnahmen, die gettoartige Umquartierung in bestimmte „Judenhäuser“ und das endgültige Verbot gewerblich-kaufmännischer Tätigkeit. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im Herbst 1939 folgten die Einziehung der Radiogeräte, die Bindung an bestimmte Lebensmittelgeschäfte, der zwangsweise Arbeitseinsatz zum Schneeräumen und zum Autobahnbau.
Erst in der gemeinsamen Not der Verfolgung hat die Darmstädter Judengemeinde über den von der Glaubensspaltung des 19. Jahrhunderts gezogenen Graben hinweg wieder zusammengefunden. Auch nach der Zerstörung der Synagogen gab es zunächst getrennte Behelfsgottesdienste für Liberale und Orthodoxe. Im Winter 1939/40 wurde schließlich ein gemeinsamer Gemeindevorstand gebildet. Sammelpunkt wurde die zum jüdischen Altersheim für ganz Hessen umfunktionierte Privatklinik Dr. Max Rosenthal in der Eschollbrücker Straße. Zumindest werktags fand künftig unter Leitung des nach der Auswanderung der Rabbiner zum provisorischen Prediger und Vorbeter bestellten Kaufmanns Bernhard Körber ein gemeinsamer Gottesdienst in der Notküche des einstigen Gemeindehauses in der Bleichstraße statt. Die nach den Schrecken der Pogromtage von 1938 fluchtartig verstärkte Auswanderung lief auch in den ersten Kriegsjahren noch weiter, so dass in vielen Familien nur die Alten zurückblieben, doch gab es weiterhin Zuzüge aus dem Umland. In den Abgangsmeldungen der jüdischen Gemeinde Darmstadt für den Februar 1940 erscheinen als „künftige Aufenthaltsorte“ New York und Santiago de Chile, aber auch die KZs Ravensbrück und Sachsenhausen. Nach den Gestapo-Listen lebten im Sommer 1940 noch 364 Juden in Darmstadt. Urnen verstorbener KZ-Häftlinge kamen nach Darmstadt zurück, um auf dem Jüdischen Friedhof beigesetzt zu werden.
Als der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten das letzte Fluchttor verschloss, waren die Vorbereitungen der von Hermann Göring angeordneten „Endlösung“ bereits angelaufen. Seit September 1941 trugen die Juden den gelben „Judenstern“. Am 20.März 1942 fuhr ein erster in Darmstadt zusammengestellter Deportationszug mit über 1000 Juden aus Starkenburg und Rheinhessen nach Polen. Unter den 164 Namen aus Darmstadt befand sich auch Benjamin Körber, der letzte Leiter der jüdischen Schule, mit seiner Familie. Ein angehängter Güterwagen mit Nähmaschinen sollte die offizielle Tarnversion „Arbeitseinsatz im Osten“ glaubhaft machen. Die Spuren verlieren sich im Raum Lublin. Einzelne Todesmeldungen kamen aus dem Vernichtungslager Majdanek.
Die nächsten Transporte folgten Ende September. Ein Zug mit zumeist älteren Leuten fuhr nach Theresienstadt im damaligen „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“, unter den 1288 Namen der Liste zahlreiche Bewohner des jüdischen Altenheims, die oft schon den Transport kaum überlebten. Ein weiterer Transport ging unmittelbar nach Auschwitz. Im Februar 1943 begleitete Rechtsanwalt Benno Joseph, der sich bis zuletzt um die Betreuung gekümmert hatte, den letzten Altenheimtransport nach Theresienstadt.
Düsteres Nachspiel war dann im Frühjahr und Sommer 1943 das razziaartige Aufspüren der bis dahin geschonten Männer und Frauen jüdischer Abstammung, die in sogenannten „Mischehen“ lebten, Menschen, die vielfach erst durch die NS-Rassengesetze wieder zu Juden gemacht worden waren. Baumeister Eduard Wolfskehl, der über 80jährige Jurist Heinrich Fulda, SPD-Innenminister des Volksstaats Hessen in den Jahren 1918/19, und die Malerin Gertrud Ullmann gehörten zu den Deportierten dieser letzten Gruppe, die in den Lagern umgekommen sind. Was sich auf den Transporten, in den Lagern abgespielt hat, ist sicher nur bedingt nachvollziehbar. Die Dokumentation der Darmstädter Todesopfer des NS-Terrors umfasst rund 600 Namen.
Nur wenige der einstigen jüdischen Mitbürger Darmstadts sind nach Kriegsende in ihre Heimat zurückgekehrt. Die Überlebenden waren in aller Herren Länder verstreut. Es gab neubelebte Kontakte, Briefe, auch gelegentliche Besuche. Sichtbares Zeugnis jüdischer Geschichte in Darmstadt blieb zunächst nur der jüdische Friedhof, der den Vernichtungsanordnungen der NS-Machthaber, die mit der Einebnung der Totenhöfe auch die letzten Spuren jüdischer Vergangenheit tilgen wollten, entgangen war. Das Inventar der alten Grabsteine erschließt die Grabsschriften als Quellen mehrerer Jahrhunderte jüdischen Lebens.
Mit der Einweihung der Neuen Synagoge in der Wilhelm-Glässing-Straße vor genau zwanzig Jahren, im Jahr 1988, hat die neubelebte jüdische Tradition auch im Stadtzentrum Darmstadts wieder einen angemessenen Platz gefunden, einen Ort der Erinnerung, der Mahnung, aber auch der Hoffnung.
Ein ähnlich bedeutendes Erinnerungs- und Mahnmal der Stadt könnten die im Herbst 2003 wiederentdeckten Überreste der Liberalen Synagoge Friedrichstraße bilden. Der Erinnerungsort der Liberalen Synagoge Darmstadt, der im November 2008 auf dem Gelände des heutigen Klinikums durch die Stadt eröffnet und bis Frühjahr 2009 in seiner endgültigen Form als multimedialer Ort des Gedenkens und Lernens vor den Augen der heutigen Generation entstehen wird, kann und wird in Zukunft ebenfalls maßgeblich dazu beitragen, dass Darmstadts reichhaltige jüdische Geschichte und Kultur nicht in Vergessenheit geraten.
Eckhart G. Franz
Anmerkung des Herausgebers: Beim vorstehenden Beitrag handelt es sich um eine modifizierte und aktualisierte Fassung des von Prof. Eckhart G. Franz für das „Darmstädter Synagogenbuch“ verfassten Texts „Jüdische Geschichte in Darmstadt“ (Hg. von Eva Reinhold-Postina und Moritz Neumann 1988 im Eduard Roether Verlag, S.190-207). Der Abdruck erfolgt mit ausdrücklicher und freundlicher Genehmigung des Autors.
Aus: Martin Frenzel (Hg.): Eine Zierde unserer Stadt. Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Liberalen Synagoge Darmstadt. Justus-von-Liebig-Verlag 2008, S.47-52.
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