Ohne die Intuition des Evangelischen Pfarrers Rüdiger Grundmann, der bei einem zufälligen Krankenbesuch im Klinikum beim Anblick der Bagger die richtige Eingebung hatte und sofort Mitglieder der
Jüdischen Gemeinde alarmierte, wäre wohl auch dieses letzte Fünftel der übrig gebliebenen Fragmente des Sakralbaus dem Erdboden gleichgemacht worden.
Kostbare, vergoldete Säulen, allerlei Zierrat und die Kellerfragmente des Sakralbaus traten zutage. Es roch, wie viele Augenzeugen jener Oktobertage 2003 immer wieder bestätigten, noch nach
Kristallnacht (Wolfgang Niedecken/BAP).
Der damalige Oberbürgermeister Peter Benz (SPD) verhängte einen sofortigen Baustopp, berief einen Runden Tisch ein mit dem Auftrag, eine Konzeption für eine Gedenkstätte im Innern des geplanten
modernen Krankenhauses für Innere Medizin zu entwickeln.
Dieser Runde Tisch setzte sich – in der Phase von 2003 bis 2005 – aus Vertretern der Stadt (Martin Frenzel als OB-Beauftragter und der städtische Denkmalpfleger Nikolaus Heiss), des Klinikums,
der Ärzteschaft, der Architekten um Prof. Jörg Friedrich und der Jüdische Gemeinde Darmstadt (Moritz Neumann, Johanna Fränkel) zusammen.
Martin Frenzels Idee und Vorschlag in dem Gremium, einen Rundgang in der Gedenkstätte nach Vorbild des Mainzer altrömischen Isistempels einzurichten, fand einhellige Zustimmung – und wurde später
von der Mainzer Firma Media Machine in die Tat umgesetzt, die auch die Isistempel-Installation in Mainz besorgte.
Der Baustopp führte zu heftigen, zum Teil antisemitischen Anfeindungen, löste eine heftige kommunalpolitische Debatte aus. Allen Widerständen zum Trotz blieb OB Peter Benz standfest: Er setzte
durch, dass die Überreste der von den Nazis 1938 zerstörten Liberalen Synagoge nicht zu „dislozieren“, sondern an Ort und Stelle im Klinikumsneubau zu integrieren seien.
Am 9. November 2009 wurde der Erinnerungsort Liberale Synagoge Darmstadt – sechs Jahre nach der Wiederentdeckung der Überreste – offiziell durch Oberbürgermeister Walter Hoffmann (SPD) eröffnet.
Während die äußere Hülle der Gedenkstätte der Gedenkstätte durch den Hamburger Star-Architekten Prof. Jörg Friedrich gestaltet wurde, haben die beiden Darmstädter Installationskünstler Ritula Fränkel und Nicolas Morris im Auftrag der Stadt Darmstadt – basierend auf der Grundkonzeption der Gedenkstätten-AG Runder Tisch – einen multimedialen Erinnerungs-Parcours aus mehreren Stationen geschaffen. U.a. können die Besucherinnen und Besucher an Touchscreens viel über die Zeit des NS-Gewaltregimes erfahren, über Täter, Opfer, Zuschauer und Mitläufer, über bekannte Persönlichkeiten des Jüdischen Darmstadts wie Heinrich Blumenthal, Otto Wolfskehl oder Julius Goldstein, Karl Freund oder Julius Landsberger oder Nazi-Schergen wie Werner Best.
„10. November 1938. Die Meute der Schüler strömt vom Hauptbahnhof Richtung Schule, wie an jedem anderen Tag. Wirklich wie an jedem andern Tag? Kaum, denn Ecke Friedrich- und Fuchsstraße trauen
wir unsern Augen nicht – es brennt!
Wir rennen hin und wollen wissen, was da los ist. Einer ruft: „Das ist die Synagoge!“
An der laufen wir schon länger als ein Jahr vorbei, ohne dass wir sie je recht wahrgenommen hätten. Dieses Haus hatte für uns keine Bedeutung.
Es war ein Gebäude, wie jedes andere, nur hübscher, weil das Türmchen eine so schöne Haube hatte.
Dichter Rauch quillt aus dem Innern des Gebäudes. Die Flammen schlagen nicht mehr allzu hoch. Die Synagoge musste schon nachts in Brand geraten sein. Die Feuerwehr ist da, aber eine große
Löschaktion kann ich nicht feststellen. Das wundert mich. Verkohlte Blätter eines Buches fliegen durch die Luft. Davon fällt ein ganzes Bündel von mir auf die Erde. Ich nehme das am besten
lesbare Blatt, kann aber nichts damit anfangen.
Ein solcher Text ist mir fremd. Ich beschließe, diesen Fund mit in die Schule zu nehmen. Wir schauen noch eine Weile auf das Feuer und rennen dann los. Mein halbverkohltes Blatt halte ich fest in
den Händen. Es trifft sich gut, dass wir in der ersten Stunde den ,v.d.A.‘ haben. So nennen wir Dr. Hans von der Au, unseren Latein- und Religionslehrer. Ich stürze aufgeregt auf ihn zu und
übergebe ihm stolz meinen halbverkohlten, aber noch gut lesbaren Fund, um zu erfahren, was das ist. Er wirft einen Blick auf das Blatt, schaut mich an, hält das Blatt hoch und sagt nicht sehr
laut, aber deutlich vernehmbar vor der ganzen Klasse: „Dieses Unrecht wird sich einmal bitter rächen!“
Ehrlich gesagt, wissen wir Quintaner nicht so recht, was er meint. Dann legt er das Stück Papier auf das Pult.
Am 10. November 2003, also exakt 65 Jahre später, haben Archäologen ein Viertel der Fundamente der Liberalen Synagoge in Darmstadt freigelegt. Heute weiß ich, was mein Lehrer damals meinte.
Zwischen dem Tag meines aufregenden Fundes und der Freilegung der Fundamente der Synagoge liegt eine Epoche, welche die Welt grundlegend verändert hat. Mit der Pogromnacht vom 9. November 1938
fand die Judenverfolgung durch Mord und Plünderungen ihren ersten Höhepunkt. Es begann eines der dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte.
(...)
Dr. von der Aues Worte klingen mir noch heute in den Ohren. Damals aber hatten die Vorgänge für mich persönlich noch keine große Bedeutung. Als Elfjähriger durchschaute ich die Zusammenhänge noch
nicht.“
(...)
Auszüge aus den 2006 als Buch erschienenen Erinnerungen Wilhelm Wannemachers.
Bildtext 1: Mein Schulweg führt vorbei an der Synagoge der Darmstädter liberalen jüdischen Gemeinde, Ecke Friedrich- und Fuchsstraße.
Bildtext 2: Die Synagoge nach der Pogromnacht im November 1938; im Hintergrund die Ohlyschule.
Bildtext 3: Dr. Hans von der Au, Latein- und Religionslehrer an der Liebigschule, Oberschule für Jungen zu Darmstadt
Zitiert nach: (c) Wilhelm WANNEMACHER 2006: „Brücken schlagen: Zeiten ändern sich, Erinnerungen bleiben“
2008-2011